Latium: Seine Heiligtümer

Latium: Seine Heiligtümer
Latium: Seine Heiligtümer
 
Im Gebiet des antiken Latium, das sich im Süden von Rom bis Terracina erstreckte, im Osten vom Apennin und dem Mons Lepinus, im Westen vom Tyrrhenischen Meer begrenzt wurde, entstanden vor allem im 2. und 1. Jahrhundert v. Chr. einige große, unter unmittelbarem Einfluss repräsentativer sakraler Anlagen des späthellenistischen Griechenland entworfene Heiligtümer, die den Kulten der an diesen Orten besonders verehrten Gottheiten eine auch äußerlich weithin ausstrahlende Wirkung verliehen. Kaum zufällig sind die beiden bedeutendsten Heiligtümer dieser Art in Palestrina (dem antiken Praeneste) und in Tivoli (dem antiken Tibur) erbaut worden, also in den Orten, die als die wichtigsten Zentren des alten Latium angesehen werden müssen.
 
Das berühmte, im ausgehenden 2. Jahrhundert v. Chr. geschaffene Heiligtum der Fortuna Primigenia in Palestrina nutzte den pyramidal hinter ihm aufragenden Monte Ginestro bewusst als natürliche Kulisse, indem es sich mit sechs Terrassen am Hang dieses Berges emporstaffelte. Die drei unteren Terrassen bildeten dabei in einer Breite von rund 240 m eine gewaltige Stufenbasis, auf der sich das über zwei Flügelrampen zugängliche Heiligtum erhob. Da auf dem Weg über die Rampen der Steilhang des Berges nicht zu sehen war, eröffnete sich dem Besucher erst beim Erreichen der Achse des Baukomplexes ein gekonnt inszenierter Ausblick: Während sich im Süden die Ebene von Latium vor seinen Augen bis zum Meer hin ausdehnte, führte im Norden eine steile Treppe zu den darüber liegenden, in der Front durch überwölbte Säulenhallen und Exedren reich gegliederten Terrassen empor. Beim Betreten der obersten Terrasse fand man sich auf einem weiten Platz (94 x 45 m) wieder, in dessen Rückwand ein auf seinem oberen Rand mit einer zweischiffigen Säulenhalle verziertes Theater eingefügt war. Überragt und weithin sichtbar bekrönt wurde die ganze Anlage schließlich vom eigentlichen Tempel der Gottheit, in dem sich ihr Kultbild aus vergoldeter Bronze befand. Fortuna, die Göttin des Glücks, wurde hier als Primigenia, als erstgeborene Tochter des Göttervaters Jupiter, zugleich jedoch auch - das alle Götter und Menschen unterwerfende Schicksal personifizierend - als Mutter des Knaben Jupiter verehrt. Am Ort ihres Tempels war der Legende nach einst ein wundertätiger, Honig spendender Olivenbaum gewachsen. Unzählige Besucher suchten in der Blütezeit des Heiligtums das berühmte Orakel der Gottheit auf, um ihr künftiges Geschick zu erfahren.
 
Von besonderer Bedeutung war auch das im ersten Viertel des 1. Jahrhunderts v. Chr. erbaute Heiligtum des »siegreichen Herkules« (Hercules Victor) in Tivoli. Auf einer auf drei Seiten von zweigeschossigen Säulenhallen umgebenen und über gewaltigen Stützbauten errichteten Platzanlage (152 x 119 m), zu der die Besucher über zwei breite Freitreppen gelangten, erhob sich ein 42 x 25 m großer Podiumtempel. Seine Cella war durch eine doppelte Säulenreihe sowie durch eine zentrale Nische gegliedert, in der das Kultbild des Herkules stand. Dem Tempel gegenüber lag ein Theater. Diese auch für andere Heiligtümer in Mittelitalien charakteristische Kombination bezeugt eine unmittelbare Verbindung theatralischer Vorführungen mit dem Kult. Die Einbeziehung der Umgebung spielte bei dem Herkules-Heiligtum von Tivoli ebenfalls eine besondere Rolle: Die Via Tiburtina, eine der wichtigen römischen Verkehrsstraßen, lief zwischen den tonnengewölbten Kammern der Stützbauten unter den Hallenarchitekturen hindurch.
 
Im ausgedehnteren Gebiet Latiums ist vor allem ein großes Heiligtum auf dem 228 m hohen Monte Sant'Angelo bei Terracina bemerkenswert, in dem man ursprünglich eine Kultstätte des jugendlichen Jupiter Anxur vermutete; hier wurde jedoch eher seine Gemahlin - die Göttin Feronia - als Schutzgottheit der freigelassenen Sklaven sowie als Bewacherin der Quellen der Stadt verehrt. Das im 2. bis 1. Jahrhundert v. Chr. errichtete - dabei allerdings ältere sakrale Stätten in die Anlage einbeziehende - Heiligtum zeichnete sich durch eine teils in den Felsen des Berges hineingeschnittene, teils durch eine Reihe mächtiger gewölbter Räume gestützte Terrasse aus, welche nach Süden zur Stadt hin ausgerichtet war. Sein von einer einfachen Säulenhalle hinterfangener Tempel war wohl aus rituellen Gründen nicht axial gerichtet, sondern schräg auf die Plattform gesetzt.
 
Da die meisten dieser Heiligtümer Latiums, die stets in direkter Auseinandersetzung mit den optischen Herausforderungen der sie umgebenden Landschaften entworfen wurden, mit dem Beginn der Kaiserzeit ihre Bedeutung verloren, sind sie vor allem als Zeugnisse der hellenistischen Kultur und Baukunst in Italien anzusehen. Gleichwohl war ihre Gestaltung - nicht zuletzt auch durch den zunehmenden Einsatz von kostengünstigen Mörteltechniken, die zur Konstruktion der Tonnengewölbe unabdingbar waren - für die Entwicklung der Architektur der Folgezeit von grundlegender Bedeutung: Durch die Synthese der von griechischen Vorbildern übernommenen Anregungen mit lokalen Traditionen und Techniken erschlossen diese Heiligtümer den Weg zur imperialen römischen Baukunst - und über diese zur Architektur der Neuzeit.
 
Dr. Caterina Maderna-Lauter
 
 
Bianchi Bandinelli, Ranuccio: Rom, das Zentrum der Macht. Die römische Kunst von den Anfängen bis zur Zeit Marc Aurels. Aus dem Italienischen übersetzt von Marcell Restle. München 1970.

Universal-Lexikon. 2012.

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